Männer und Ess-Störungen

  • Ess-Störungen bei Jungen und Männern

    Ess-Störungen werden in der Öffentlichkeit häufig noch ausschließlich als weibliches Problem definiert und wahrgenommen. Doch zunehmend sind auch Männer von Ess-Störungen betroffen. Etwa zehn Prozent der erwachsenen Betroffenen mit Ess-Störungen sind männlich. Manche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass etwa jeder 12. Mann von einer Ess-Störung betroffen ist oder zumindest unter einem auffälligen Essverhalten leidet. Bezieht man verschiedene Symptome mit ein, welche mit einer Ess-Störung einhergehen, ist die Anzahl der essgestörten Männer möglicherweise wesentlich größer. Die Studienlage insgesamt ist nicht eindeutig, d.h. der statistisch erfasste Anteil betroffener Männer schwankt. Die Ursachen dafür sind vielschichtig.

    Zum einen gehen betroffene Männer häufig erst zum Arzt, wenn es zu einem ernsten Vorfall kommt. Zum anderen reden Männer oftmals weniger über ihre Unzulänglichkeiten, Emotionen und Schwierigkeiten, so dass sie häufig glauben, die Einzigen mit der Problematik zu sein. Ebenso wird vermutet, dass bei Männern die leichteren Formen von gestörtem Essverhalten häufig gar nicht als solche wahrgenommen werden. Bei Männern mit Sportbulimie beispielsweise existiert häufig ein positives Feedback bezüglich einer Ernährung auf Eiweißdrink-Basis. Vermutlich gibt es daher eine große Zahl an Männern welche unter zwar weniger lebensbedrohlichen, aber dennoch dysfunktionalen Essmustern leiden. Hinzu kommt, dass die meisten Ärzte bei Männern im Gegensatz zu Frauen nicht für Ess-Störungen sensibilisiert sind, so dass Diagnose und Therapie oft sehr spät, häufig erst bei auffälligen Begleiterkrankungen erfolgt. Zudem begründen Männer ihre Ess-Störung, häufiger als Frauen mit körperlichen Problemen, wie Allergien oder Magen-Darm Störungen, wobei sie dabei im Gegensatz zu Frauen, auch tatsächlich die psychischen Ursachen dahinter nicht sehen und spüren.

    Klinische Studien fanden heraus, dass Männer am häufigsten, mit etwa 35 Prozent unter der Binge Eating Störung (Essattacken mit Kontrollverlust) leiden. Hierbei dient das Essen als Suchtmittel in dem Versuch den als schwierig erlebten Gefühlen und Lebensphasen entgegenzuwirken. Bei den beiden anderen Hauptformen von Ess-Störungen sind etwa 20 Prozent der Bulimiker (Ess-Brechsucht) und ca. zehn Prozent der von Anorexie (Magersucht) Betroffenen männlich. Neben diesen „klassischen“ Formen der Ess-Störungen leiden etwa ein Drittel, der von einer Ess-Störung betroffenen Männer an Symptomen von Mischformen gestörten Essverhaltens. Besonders die jüngere Generation Männer ist davon betroffen.
    Untersuchungen zeigen, dass bereits etwa 15 Prozent der Jungen zwischen 11 und 17 Jahren Symptome einer Ess-Störung aufweisen, 30 Prozent der Jungen in dieser Altersstufe sich zu dick finden und Gewicht verlieren wollen und bereits 16 Prozent Diäterfahrungen haben.


     


    So stellt sich doch die Frage, wieso Jungen und Männer zunehmend unter Druck ihres Körperbildes stehen?

    Erst seit den 80er Jahren stehen Männer mehr oder weniger unter Druck einem bestimmten Rollenbild zu entsprechen. War es Mitte der 70er Jahre völlig in Ordnung, dass Männer typische Frauenattribute trugen, wandelte sich dieses Bild Ende der 80er Jahre dahingehend, dass Männer vor allem muskulös und hart sein sollten. Der Fitnesskult mit Bodybuilding und kantigen, klaren Körperformen prägte die Männerrolle dieser Tage. Filme und Schauspieler dienten als zusätzliche Vorbilder. Mitte der 90er Jahre war es vor allem die Fitness- und Wellnesswelle, welche großen Einfluss auf die Männerrolle nahm. Nicht die Muskeln, sondern der gesund gebaute und schlanke Körper, machte einen echten Mann aus. Heute nimmt die Bedeutung von Schönheitsideal und Körperkult auch bei Männern rasant zu. Die sich wandelnde Geschlechterrollenverteilung verunsichert viele Männer und oft resultieren daraus Schwierigkeiten individuelle Männlichkeit zu definieren. Gerade junge Männer greifen aus dieser Verunsicherung heraus oft klassische Frauenmuster auf, denn die Rolle der Frau scheint nach jahrzehntelanger Emanzipation vielfältiger als die der Männer definiert zu sein. Muskeln sind eines der wenigen Gebiete, in denen Männer sich klar von Frauen unterscheiden und häufig wird der Körper so zur besonderen Definitionsquelle von Männlichkeit. Das männliche Schönheitsideal eines athletischen, muskulösen Körpers steht in dieser Phase des Heranwachsens oftmals im Gegensatz zur Selbstwahrnehmung des sich verändernden eigenen Körpers und resultiert häufig in einer Körperunzufriedenheit und dem Wunsch nach Körperveränderung.

    In dieser Phase - dem Übergang von Kindheit zum Erwachsensein (Adoleszenz) entwickeln sich meist die ersten Anzeichen für eine Ess-Störung. Der Wunsch nach Zunahme an Muskelmasse oder Gewichtsregulierung, kann dazu führen, dass junge Männer restriktiv essen, exzessiv Sport und Substanzmittelmissbrauch betreiben. Wenn dieser Wunsch nach sportlicher Betätigung und einem muskulösen Körperbau exzessiv wird, spricht man von Biggerexie – Synonym für Muskelsucht oder auch bekannt als Adoniskomplex, welcher mit dem zwanghaften Wunsch verknüpft ist, den Körper muskulös zu formen. Damit einhergehend sind meist proteinreiche oder besonders fettarme Diäten. Die Betroffenen entwickeln mehr und mehr eine Störung der Selbstwahrnehmung, ähnlich der Anorexie. Trotz bereits athletischen Körperbau schätzen sie sich selbst als sehr schmächtig und noch nicht muskulös genug ein. Oft werden Beruf und Freizeit einem zwanghaften Trainingsplan untergeordnet. Nicht wenige greifen zu leistungssteigernden und muskelaufbauenden Substanzen.

    Zusätzlich mangelt es Heranwachsenden häufig an erstrebenswerten Männervorbildern, welche dann oft über die durch Werbung, Lifestyle-Magazine oder durch Sportarten vermittelten Vorbilder gefunden werden. Seitdem die Mode- und Schönheitsindustrie den Mann als Zielgruppe entdeckt hat, erhöht sich auch der gesellschaftliche Druck auf den Mann, einem bestimmten Ideal zu entsprechen. War noch bis vor wenigen Jahren ein Mann mit natürlichen Rundungen kein Problem, ist heute ein Waschbrettbauch angesagt. Dieser Druck kann dazu führen, dass Männer ihr Essverhalten kontrollieren und Diät halten um den vorherrschenden Körperbild zu entsprechen. Die Bilder in den Medien, zeigen in der Regel häufig vor allem Männer mit muskulösen und athletischen Körpern, häufig verknüpft mit finanziellem, sexuellem und gesellschaftlichen Erfolg.

    Eines dieser Männerideale von heute stellt dabei der „metrosexuelle“ Mann dar. Der „neue Mann“ soll einerseits harte und somit männliche, andererseits sensible, einfühlsame und somit weibliche Verhaltensweisen gleichzeitig zeigen. Er muss also zwischen zwei Verhaltensformen hin- und her wechseln können. Die damit verbundene zunehmende Auseinandersetzung mit der Männlichkeit auf körperlicher wie emotionaler Ebene, stellt für viele Männer eine Überforderung dar und zieht dabei auch psychosomatische Krankheiten nach sich. Und dabei treten eben auch „klassisch weiblich definierte“ Krankheiten wie Ess-Störungen in den Vordergrund. Hinter dem Wunsch nach einem vermeintlichen Traumkörper stecken aber häufig auch seelische Probleme. Anorektische Jungen und Männer stammen, ebenso wie anorektische Mädschen und Frauen, häufig aus Familien in denen eine starke Bindung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern besteht und autonomes Verhalten abgelehnt wird. Der Sohn wird in solchen Familien typischerweise stark behütet und darf nicht, wie andere Jungen, bei körperlichen Aktivitäten seine Belastungsgrenzen austesten, was zur Furcht vor Niederlagen und zu einem labilen männlichen Selbstbewusstsein führen kann. Da Jungen in der Pubertät häufig versuchen durch externalisierende Verhaltensweisen ihre Geschlechtsidentität und ihre Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen und aggressives Verhalten in solchen Familien typischerweise abgelehnt wird, kann solch ein Aggressionstabu zusätzlich einen Verlust in der Identitätsentwicklung des Sohnes bedeuten.

    In der Manifestation von Ess-Störungen und ihrem Verlauf zeigen sich keine wesentlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede. Der Auslöser bzw. die Ausgangssituation zu Beginn der Erkrankung ist bei Männern häufig eine andere als bei Frauen. Während Mädchen in der Pubertät durch Diäten versuchen, ihre weiblichen Rundungen loszuwerden und Gewicht zu verlieren, nehmen sich Jungen in der Pubertät eher als schwächlich und als zu dünn wahr und versuchen infolgedessen ihren Körper durch Sporttreiben und gezielte Diäten, breiter und kräftiger aussehen zu lassen. Doch auch übergewichtige und kräftige Männer können Gefahr laufen, ein asketisches und männliches Schönheitsideal anzustreben und daraufhin eine Ess-Störung zu entwickeln. Sowohl dünne als auch kräftige Männer versuchen dabei nicht selten ihre körperliche Männlichkeit zu verstärken, im Gegensatz zu vielen Frauen, welche ihren weiblichen runden Körper eher ablehnen. Für Männer ist daher häufig nicht das absolute Gewicht maßgebend, sondern vielmehr ihre Körperform, das heißt muskulöser, schwerer, jedoch ohne ein Gramm Fett. Mit der Ess-Störung soll sozusagen Männlichkeit nicht verhindert, sondern in gewisser Weise gerettet werden.

    Nicht nur die Gesamtunzufriedenheit der Männer mit dem eigenen Körperbild wächst stetig, sondern in gleichem Maße auch die Unzufriedenheit mit einzelnen ausgewählten Körperpartien (z.B. Bauch, Hüfte, Po). Diese Körperunzufriedenheit betrifft alle Altersgruppen gleichermaßen. So haben etwa 60% der Männer bereits eine Diät gemacht, 30% der Männer rauchen um Gewicht zu verlieren und 40 % der Männer wenden die Hälfte ihrer Workout-Zeit zur Gewichtskontrolle auf, d.h. sie trieben Sport um Gewicht zu verlieren. (vgl. Pope Jr., 2001, S.48) Dies zeigt, dass Männer zunehmend mit ihrem Äußeren unzufrieden sind und dementsprechende Maßnahmen ergreifen um ihr Aussehen zu verändern.

    Das zusätzliche Auftreten von psychischen Erkrankungen und die Häufigkeit von Suizidversuchen scheint bei Männern höher als bei Frauen zu sein. Psychiatrische Begleiterkrankungen (affektive Störungen, Substanzmittelmissbrauch, Substanzmittelabhängigkeit) werden bei von Ess-Störungen betroffenen Männern mit ca. 70 Prozent angegeben. Ein weiterer Geschlechtsunterschied besteht in der sexuellen Orientierung, wobei unter den männlichen Betroffenen von Ess-Störungen Homo- und Bisexualität häufiger anzutreffen ist als bei Frauen. Homosexuelle Männer haben durch die oft stärkere Irritation der Identität als Mann, ein erhöhtes Risiko an einer Ess-Störung zu erkranken. Es bestehen allerdings nur geringe Unterschiede in der Körperunzufriedenheit bei Homo- und Heterosexuellen Männern. Möglicherweise prägt die äußere Erscheinung schwuler Männer das Selbstwertgefühl jedoch mehr als bei Heterosexuellen und sie könnten damit einem ähnlichen Attraktivitätsdruck unterliegen wie Frauen.

     „Eine starke Fixierung auf eine »männliche Idealfigur« und unrealistische Wünsche, den eigenen Körper zu formen, können zur Entstehung einer Ess-Störung bei Jungen oder Männern beitragen. Aber auch die Kompensation schwierig erlebter Gefühle und Lebensphasen durch suchtartige Essanfälle (Binge-Eating) sind bei Männern sehr verbreitet“


    Quellen und mehr Informationen:

    - Männergesundheitsbericht, RKI 2015: Seite 66f, 110
    - Bundesgesundheitsbericht 2015: Seite 118, 120
    - Medizinische Reihe Suchtfragen BZGA
    - Dr. Lioba Hoffmann „Ess-Störungen bei Männern“ in: Ernährung im Fokus 05/2009 – Bundesanstalt Landwirtschaft und Ernährung
    - Das "metrosexuelle" Körperbild und Anorexia Nervosa bei Männern: Die gesundheitlichen Folgen eines neuen Körperideals, Annemieke Tetzlaff (2008)

    Ganz herzlichen Dank geht an unseren Netzwerkpartner JUMA LAG Jungen- und Männergesundheit Sachsen für die Auswertung von Datenmaterial und Gesundheitsberichten.

BEL Beratungszentrum Ess-Störungen Leipzig | Antonienstr. 15 · D-04229 Leipzig | Fon: 0341 / 256 990 77 | Fax: 0341 / 256 990 78 | Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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